Wie Friedensordnungen entstehen

AKZENT

200 Jahre seit der Geburt Otto von Bismarck

Vor zweihundert Jahren, am 1. April 1815 erblickte Otto von Bismarck auf dem Landgut Schönhausen an der Elbe das Licht der Welt.

Vertragliche Regelungen zwischen Deutschland und Russland seien – Folge des verbrecherischen Hitler-Stalin-Pakts mit seinem geheimen Zusatzprotokoll, dessen Abschluss unmittelbar die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs bewirkte – für Jahrhunderte disqualifiziert. Wer so denkt, denkt zu kurz: Man kann Geschichte und gegenseitige Beziehungen beider Länder doch nicht allein in Relation mit den Untaten ihrer beiden blutrünstigsten Despoten beurteilen. Es gab auch andere Verträge zwischen Deutschland und Russland – historisch bedeutsame Verträge. Der Rückversicherungsvertrag von 1887, vom deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck mit Russland vereinbart, verdient es, im Blick auf die Solidität von Friedensordnungen in Europa gewürdigt zu werden.

Kriegsverhinderung – Kriegsauslösung


Unbestritten ist die Tatsache, dass es Otto von Bismarck 1887 gelungen ist, mit dem Rückversicherungsvertrag eine beidseits von Vertrauen und gegenseitiger Achtung gekennzeichnete Friedensperiode einzuleiten – und dass die unüberlegte Preisgabe dieses Vertrags nach der Entlassung Bismarcks zur entscheidenden Wegmarke hin zur zwanzig Jahre später ausbrechenden Katastrophe des Ersten Weltkriegs wurde.

Es war eines der grossen Verdienste Bismarcks, dass er als Deutscher, als Mitteleuropäer mit Russland so umzugehen wusste, dass gegenseitiges Vertrauen die Beziehung zu prägen begann. Dies in Erinnerung zu rufen, ist umso angebrachter, da derzeit von heutigen Verantwortungsträgern Spannungen zwischen Europa und Russland mit schlechthin erschreckender Leichtfertigkeit provoziert und in unverzeihlicher Oberflächlichkeit propagandistisch ausgebeutet werden.

Bismarcks Konzept

Woraus nährte sich denn in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts das Vertrauen St. Petersburgs in Bismarcks aussenpolitische Führungsrolle? Nachdem die Ausrufung des Deutschen Kaiserreichs mit Wilhelm I. als Herrscher 1871 nach drei Kriegen in Versailles Tatsache geworden war, erklärte Otto von Bismarck das Deutsche Reich als «saturiert»: Es stelle weder in Übersee (die Konflikte um Kolonien sollten vielmehr Frankreichs und Englands militärische Kräfte fern von Europa binden) territoriale Ansprüche, noch entwickle es (wie Hitler verhängnisvollerweise siebzig Jahre später) irgendwelche Gier nach «neuem Lebensraum» für Deutschland im Osten Europas.

Politik der Mitte

Bismarck war wie nur Wenigen vor und nach ihm klar, dass Deutschland aus seiner geopolitischen Lage heraus eine konsequente «Politik der Mitte» gleichsam verschrieben sei. Allerdings war nicht passive Hinnahme dieser Tatsache, vielmehr aktives Gestalten dieser Ausgangslage der Kern von Bismarcks politischem Lebenswerk: Dank konsequentem Verzicht auf deutsche Gebietsansprüche gelang es ihm, einerseits allfällig von den Rändern Europas ausgehende Gelüste im Zaum zu halten. Oder aber die Völker an den Rändern Europas derart ausgiebig mit- oder auch gegeneinander (etwa im Rahmen der Rivalität zwischen England und Russland um die türkischen Meerengen) zu beschäftigen, dass die Mitte unangetastet blieb – und von allen andern Mächten in ihrer Rolle der «ehrlichen Maklerin» als Schiedsrichterin anerkannt wurde.

Aus dieser Position erwuchs Deutschland das Vertrauen des russischen Zaren. Nicht unwesentliche Voraussetzung dafür, dass es Bismarck gelang, zur Sicherung des Friedens in Europa ein vielfältiges Bündnissystem raffiniert – für viele auch verwirrend – zu flechten. Dessen Krone bildete der am 18. Juni 1887 mit Russland vereinbarte Rückversicherungsvertrag, in dem sich Russland und Deutschland «wohlwollende Neutralität» zusicherten, wenn eines der beiden Länder von einem dritten angegriffen würde.

Russlands Sicherheitsbedürfnis

Russland hatte damals das Trauma des Vorstosses von Napoleon bis ins Herz von Moskau noch längst nicht verdaut. Die Unmöglichkeit, seine Westgrenze in den weiten Ebenen Osteuropas vor konzentriertem Vorstoss eines starken Angreifers zu schützen, stand Russland – auch wenn die Erneuerung dieses Traumas durch den 1941 bis vor Moskau vorstossenden Hitler noch nicht Tatsache war – als historischer Schrecken noch vor Augen. Erklärter Verzicht, Russland von Westen her zu bedrohen oder zu bedrängen, war die Wurzel der friedlichen Entwicklung zwischen Russland und Deutschland bis zum Ende der Reichskanzlerschaft Bismarcks.

Gleiche Einsicht in Gegebenheiten, welche die Geschichte – und die Friedensbereitschaft – von Ländern prägen, wäre heute, wo kopflose Zauberlehrlinge den Operationsbereich der Nato bis unmittelbar an die Grenze Russlands auszudehnen suchen, mehr als nur angebracht. Für Bismarck war noch klar: Wer Russlands legitimen Anspruch auf Sicherheit in seinem schwer zu verteidigenden westlichen Grenzraum respektiert, trägt bei zum Frieden. Wer Russland Aggressivität vonseiten des Westens befürchten lässt, bewirkt Spannungen, riskiert Krieg.

Einsichten, die an Gültigkeit nicht verlieren, nur weil Bismarcks Nachfolger – aus Unvermögen oder aus leichtfertiger Überheblichkeit – die tragenden Elemente seines Friedenswerks nicht zu verstehen vermochten. Sie liessen den Rückversicherungsvertrag fallen – und schufen damit die Voraussetzung zu jenem «cauchemar des coalitions», aus dem heraus Deutschland zwanzig Jahre später in den Ersten Weltkrieg gestolpert ist.

Frivole Konfliktschürung

Die von der Brüsseler Funktionärskaste in Junckers Gefolgschaft aufgebrachte Idee, den hoffnungslos überschuldeten EU-Mitgliedstaaten jetzt auch noch die Milliarden für eine gegen Russland aufzustellende EU-Armee abzupressen, steht wohl in direkter Tradition zu all jenen Engstirnigkeiten, die Bismarcks Friedensordnung nach seiner Entlassung zu Fall brachten. Damals wie heute sind es laufend sich verschärfende hohle Sprüche angeblicher Verantwortungsträger, die Spannungen schüren – Spannungen, die vor hundert Jahren unversehens in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs führten. Brüssels gemeingefährlicher Blindheit seien die Worte des derzeit wohl bedeutendsten deutschen Strategie-Experten entgegengestellt. Herfried Münkler bewertet in seinem neuen Buch «Macht in der Mitte» die von Bismarck geschaffene Friedensordnung nicht zuletzt auch im Blick auf die heutige Entwicklung des Verhältnisses zwischen der EU und Russland mit folgenden Worten (Seiten 128f):

«Bismarck hatte das Problem der starken Mitte für die Machtkonstellationen in Europa begriffen und deswegen das Deutsche Reich für saturiert erklärt. Damit signalisierte er den Nachbarn, dass keiner von ihnen mit deutschen Expansionsabsichten zu rechnen habe und sich deswegen auch nicht an einem gegen Deutschland gerichteten Bündnis beteiligen müsse – im Gegenteil: Bismarck suchte das Deutsche Reich als einen die europäischen Machtkonstellationen stabilisierenden und ausgleichenden Faktor zu positionieren, wusste dabei aber sehr wohl, dass die Mechanismen der europäischen Politik seit der Reichsgründung ein Bündnis zwischen Frankreich und Russland nahelegten. Um eine solche für die deutsche Mitte gefährliche Konstellation zu verhindern, suchte er durch den ‹Rückversicherungsvertrag› eine vertrauensvolle Kooperation mit Russland sicherzustellen».

Man braucht in diesen Sätzen den Namen «Deutschland» nur durch «Europäische Union» zu ersetzen. Dann ist die Ursache gegenwärtig geschürter Spannungen in Europas Osten ebenso umschrieben wie der gültige Ansatz zu deren Behebung.

Ulrich Schlüer


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