Polen - Land im Aufbruch

Notizen zur «Schweizerzeit»-Leserreise 2015

Von Ulrich Schlüer, Chefredaktor «Schweizerzeit»

Das Ziel der diesjährigen «Schweizerzeit»-Leserreise war Polen. Ein Land, das sich im schönsten Kleid präsentierte und den Reisenden unerwartete Erlebnisse und Eindrücke vermittelte.Polen gehörte zu den am schwersten von den Kriegshandlungen im Zweiten Weltkrieg heimgesuchten Ländern. Von den Nazis als «Untermenschen» erniedrigt, erlitten die Polen niederträchtigste Demütigung und unbarmherzigste Behandlung. Die reiche jüdische Kultur in den polnischen Städten wurde bis auf wenige Reste zerstört, die polnischen Juden, Hauptopfer der «Endlösung», nahezu vollständig ausgerottet. Juden gibt es in Polen heute kaum mehr.

Und nach dem Krieg wurde Polen der Knute der Roten Armee unterworfen.

Städte

Einzig Krakau – zweifellos eine der schönsten Städte überhaupt – überlebte den Krieg einigermassen unbeschädigt. Andere Städte – Breslau, Posen, Danzig, Warschau – wurden bis fast zur vollständigen Zerstörung verwüstet. In Breslau und Danzig glaubt man auf den ersten Blick kaum, dass man sich in neuen, erst fünfzigjährigen Städten befindet. Derart eindrücklich ist der Wiederaufbau, die Rekonstruktion gelungen. Die polnischen Städte sind Reiseziele eindrücklicher Schönheit, voll von pulsierendem Leben: Junge Städte, Universitätsstädte.

Befreiung

1772 fand die erste Teilung Polens statt – zwischen Habsburg-Österreich, dem russischen Zarenreich und dem Königreich Preussen. Mit Ausnahme weniger Jahre in der Zwischenkriegszeit war Polen seither unfrei, unterdrückt, fremdbestimmt – oft auf äusserst grausame Weise. Erst nach dem Zerfall des sozialistischen Imperiums der UdSSR wurde den bis dahin bitterlich verarmten Polen wahrhaftige Freiheit zuteil. Sie äusserte sich zunächst in Form starker Auswanderungswellen: Deutschland und England, aber auch die USA waren Hauptziele.

Zwanzig Jahre später ist Polen kaum wiederzuerkennen: Überall Aufbruch, überall Entwicklung. Neue Häuser, neue Betriebe, schmucke Kleinstädte, peinliche Sauberkeit. Da wird ein Land aufgebaut und entwickelt durch eine Bevölkerung, die offensichtlich zum ersten Mal spürt, dass, wer sich anstrengt, wer seine Freiheit nutzt, Früchte ernten kann. Noch gehört Polen, statistisch gesehen, zu den ärmeren Ländern in Europa. Aber es erlebt – auch das sagt die Statistik – zusammen mit Estland die stürmischste Entwicklung. Die Eindrücke sind überwältigend, oft mit Händen zu greifen: Ein seit Jahrhunderten erstmals von Unterdrückung befreites Volk entdeckt, was Freiheit erlaubt, was Freiheit ermöglicht.

Der wirtschaftliche Aufschwung beeindruckt. Noch mehr beeindruckt die von der Bevölkerung ausgestrahlte Gewissheit, dass erstklassige Dienstleistungen bester Motor für den aufblühenden Tourismus sind. Polen spürt seine Befreiung. Es lebt diese Befreiung; da nimmt ein Volk sein Schicksal entschlossen in die eigenen Hände. Polens Aufschwung steht in diametralem Gegensatz zu der in fast allen andern Ländern der Europäischen Union auf Schritt und Tritt anzutreffenden Stagnation, hervorgerufen durch die Überschuldungskrise.

Der Euro

Die Polen haben ihre eigene Währung behalten. Wir haben nie Repräsentanten der Regierung, nur zufällige Gesprächspartner auf Währungsprobleme angesprochen. Die meisten reagierten zurückhaltend: Die Regierung suche den Anschluss an die Euro-Zone. Selber sei man skeptisch.

Die Polen spüren den Ertrag, den Erfolg ihrer täglichen Leistungsbereitschaft und möchten ihn nicht in den Schuldenlöchern undisziplinierter EU-Länder ertrinken lassen. Dass die bereits mehrfach verschobene Euro-Einführung während unseres Aufenthalts erneut um drei Jahre, neu auf 2020 hinausgeschoben worden ist, erntet sichtbare Erleichterung.

Deutsche Sprache

Bei aller polnischen Dienstfertigkeit den Touristen gegenüber: In einer Frage sind die Polen, deren Sprache Unkundige kaum verstehen, eisern: Deutsche Übersetzungen gibt es nahezu keine. Englische schon. Die deutsche Sprache aber meiden die Polen, obwohl viele deutsche Touristen Polen besuchen. Da wirkt die Kraft der Ge-schichte, Reaktion auf Erlebtes, Erschütterndes, Erduldetes.

Für Reisegruppen stehen indessen umfassend gebildete, hervorragende Reiseführer bereit – auch deutschsprachige. Polnische Reiseführer – und das verleiht ihnen Einzigartigkeit – versuchen fast ausnahmslos, den Besuchern ihre Begeisterung für ihr eigenes Land zu vermitteln. Sie anzustecken mit ihrem Optimismus. Eine wahrhaft unvergessliche Stadtführung solchen Charakters wurde der «Schweizerzeit»-Gruppe in der Kleinstadt Torun zuteil, so ziemlich im Zentrum Polens.

Schüler

Wo immer man hinschaut, wo immer man sich hinwendet: Hunderte Schulklassen sind in Polen täglich unterwegs. Wohl sämtliche Schulklassen Polens besuchen, begleitet von ihren Lehrern, die historischen Stätten. Da herrscht keinerlei Larifari. Da findet geordneter Unterricht statt. Eine Nation macht sich auf, ihrer Jugend die eigene Geschichte, die eigene Kultur zu vermit-teln. Seien es Kindergartenklassen, seien es Schüler- oder Studentengruppen: Ihnen allen wird Polen als Heimat vermittelt. Eindrücklich für Besucher!

Masuren

Die Masuren: Eine in ganz Europa einzigartige Landschaft. Statt einer Beschreibung empfehlen wir Ihnen das in der heutigen «Schweizerzeit» empfohlene Hörbuch «So zärtlich war Suleyken»: Wunderbare Erzählungen von Siegfried Lenz, der in dieser geschichtsträchtigen Landschaft seinen Wurzeln nachspürt. Und der den Lesern in herrlichen Geschichten skurrile, knorrige Charaktere aus dem äussersten Nordosten Polens präsentiert.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch