Eine neue Breschnew-Doktrin?

Freiheit und Selbstbestimmung sind bedroht

Seinerzeit, als die Sowjetunion den Ostblock noch mit eiserner Hand unter ihre Knute zwang, erklärte die Breschnew-Doktrin die «sozialistischen Bruderstaaten» als bloss «beschränkt souverän». «Sozialistische Solidarität» nach Moskauer Diktat ging staatlicher Souveränität im damaligen Ostblock vor.


Von Ulrich Schlüer, Chefredaktor

Erlassen wurde die Breschnew-Doktrin vom damaligen sowjetischen Parteichef Leonid Breschnew am 12. November 1968 – unmittelbar nach Niederwalzung des «Prager Frühling». Das schüchterne, vom tschechischen Freiheitswillen genährte Pflänzchen eigenständiger Auslegung der sozialistischen Lehre war mit Panzern der Roten Armee buchstäblich plattgewalzt worden.

Von der Breschnew-…

Die Breschnew-Doktrin sollte – auch Apparatschik-Unterschriften aus den niedergewalzten «Bruderländern» tragend – die gewaltsame Niederschlagung des tschechischen Freiheitsdrangs (1968), des Ungarn-Aufstands (1956) und des Arbeiteraufstands in Ostberlin (1953) nachträglich rechtfertigen. Moskau duldete keinerlei Vorbehalte gegenüber seiner Vormachtstellung im sozialistischen Imperium.

1989 zerbrach der Eiserne Vorhang – bald darauf implodierte das Sowjetimperium. Die Breschnew-Doktrin verschwand sang- und klanglos. Kein einziges Land Osteuropas unterwarf sich freiwillig sozialistischem Imperialismus oder der Vorherrschaft Moskaus. Sobald der Zwang von oben wegfiel, beanspruchten alle zuvor Unterdrückten ihre uneingeschränkte Souveränität als eigenständige Staaten.

Fünfundzwanzig Jahre sind seither verstrichen. Das Wort von der «beschränkten Souveränität» verschwand aus dem Polit-Wortschatz in Europa. Für alle Zeiten?

… zur Burkhalter-Doktrin

Da profiliert sich doch neuerdings inmitten Europas die Regierung eines Kleinstaats mit Ideen nur noch «beschränkter Souveränität». Dies nicht unter Zwang. Eher aus Eigenständigkeits- und Demokratiemüdigkeit.

Es gibt nämlich eine Zentrale in Europa, die von sich beansprucht, als «Stimme ganz Europas» wahrgenommen zu werden. Anzubieten hat sie, wohin man auch immer schaut, bloss Schuldenlöcher. Aber Bundesbern glaubt, aus Brüssel wehe ihm jener verlockende «Duft der grossen weiten Welt» entgegen, den nach höheren Weihen dürstende Politiker im Kleinstaat so schmerzlich vermissen.

Bern biedert sich an, übermittelt grosszügige Angebote ins herrische Brüssel: Man sei bereit, Gesetze und Beschlüsse, die in der Unionshauptstadt getroffen würden, fortan «automatisch», unter gänzlichem Verzicht auf Mitbestimmung zu übernehmen. Ergäben sich zur Auslegung einzelner Beschlüsse Meinungsverschiedenheiten, überlasse man dem EU-Gerichtshof, dem Gericht der Gegenseite, das unanfechtbare letzte Wort. Auf dass fortan fremdes Recht, ausgelegt von fremden Richtern dem mitunter direktdemokratisch-störrischen Schweizervolk den «richtigen» Weg weise. Sollten diese Störrischen dennoch an der Urne etwas beschliessen, das Brüssel missfällt, dann habe dieses Brüssel das Recht zu Strafmassnahmen: Das ist «beschränkte Souveränität» gemäss Burkhalter-Doktrin. Bundesbern will damit die Schweiz beglücken. Die Verhandlungen dazu sind bereits im Gang.

Nein! Eine Neuauflage der Breschnew-Doktrin ist das nicht. Denn Breschnew hatte Zwang und Gewalt anzuwenden, bis er alle Osteuropäer seinem herrischen Willen zu unterwerfen vermochte. Nach Burkhalter-Doktrin wird die Unterwerfung freiwillig angeboten. Es ist unsere Landesregierung, die Brüssel einen eigentlichen Gessler-Vertrag anbietet; Forderungen werden allein von der Gegenseite gestellt – die Schweiz hätte nur noch zu parieren.

Brüssels Antwort

Brüssel reagiert so, wie Mächtige reagieren, wenn sich Devote vor ihnen in den Staub werfen: Es stellt weitere, zusätzliche Forderungen auf:

Dann, wenn sich die EU weiter nach Osten ver-grössert hat, habe die Schweiz immer sog. «Kohäsionszahlungen» geleistet – aufgrund eigener Entscheidungen. Es begann mit einer vollen Milliarde; später folgte eine dreistellige Millionensumme. Und derzeit wird eine dritte Schweizer Zahlung von Brüssel erwartet. Dass die Schweiz darüber noch eigenständig entscheidet, das passt Brüssel nicht länger in den Kram. Feste jährliche Zahlungen, automatisch zu überweisen, seien angebrachter, meint die EU. Als wäre die Schweiz ein tributpflichtiges Untertanenland.

Und dann müsse diese Schweiz mit ihrer Brüssel zutiefst missfallenden direkten Demokratie endlich ein «Überwachungsorgan» akzeptieren. Dessen Zusammensetzung will Brüssel allein festlegen. Postiert aber soll es in der Schweiz werden, auf dass es hier Tag für Tag darüber wache, ob die Schweizer all ihre Verpflichtungen Brüssel gegenüber auch buchstabengetreu erfüllen.

Die Rückkehr der Vögte würde damit Realität.

Zerstörung des bilateralen Wegs

Bundesbern will uns das, worüber es mit Brüssel unter den von dort vorgegebenen Bedingungen
verhandelt, verharmlosend als «Rahmenvertrag» verkaufen. Wer den Vertragsinhalt und Berns im Voraus geleistete Zugeständnisse ins Auge fasst, realisiert indessen rasch: Was uns als «Rahmenvertrag» angedreht werden soll, ist in Wahrheit ein «Unterwerfungsvertrag». Er läutet das Ende der souveränen Schweiz ein. Ein Gessler-Vertrag wird uns aufgezwungen.

Bern behauptet, damit die «Erneuerung des bilateralen Wegs» einzuleiten. Eine wahrhaft heimtückische Verdrehung der Tatsachen. «Bilateral» verhandeln Gleichberechtigte, eigenständige Staaten oder Staatengruppen, die sich gegenseitig als souverän anerkennen und respektieren. Bern aber bietet die Unterwerfung, die Entrechtung der Schweiz an. Die Schweiz würde von der bilateralen Verhandlungspartnerin zur Befehlsemp-fängerin.

Die Schweiz hätte, würde sich der Bundesrat durchsetzen, nur noch «automatisch» zu übernehmen, was Brüssel anordnet. Sie müsste einem fremden Gericht, zusammengesetzt ausschliesslich aus fremden Richtern, das letzte, unanfechtbare Wort überlassen. Wollte der Souverän – Volk und Stände – an der Urne anderes beschliessen, dann drohen Strafen, zu welchen Bundesbern Brüssel vertraglich ausdrücklich bevollmächtigt.

Breschnew musste die zu «Bruderstaaten» Degradierten mit Panzereinsatz zwingen, sich mit der ihnen von Moskau noch zugestandenen «beschränkten Souveränität» abzufinden. Burkhalter bietet Brüssel den freiwilligen – fürs eigene Volk hinter allerlei beschönigenden Begriffen getarnten – Verzicht der Schweiz auf Souveränität an.

Die Osteuropäer fanden, als das kommunistische Regime in Moskau zusammenbrach, sofort die Kraft, das Joch der sozialistischen Diktatur
abzuschütteln. Dem Schweizervolk steht die Kraftprobe noch bevor.

Dr. Ulrich Schlüer - info@schluer.ch